Psychotherapie für Migrant:innen

Das wichtige Thema "Migration"

Das Thema Migration ist in aller Munde. 

Sowohl im privaten Gesprächen und noch viel mehr im politischen Rahmen. 

Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die weitaus meisten Migrationsgeschichten Erfolgsgeschichten sind. 

Die globale transnationale Migration ist ein normalpsychologisches anthropologisches Phänomen, das zukünftig erheblich zunehmen wird. Wir sind von allen Seiten davon umgeben und verdanken dem eine, ich will sagen schon gewohnte, Vielfalt. 

Was es jedoch wirklich bedeutet, mit „Migrationshintergrund“ zu sein, wissen nur diejenigen, welche sich immer wieder in verschiedensten Situationen neu orientieren müssen.

Migration verändert die Identität der betroffenen Individuen und geht mit einer Entwicklungsphase einher, die sich als die dritte Individuation, als kulturelle Adoleszenz (Menschen in Bewegung zwischen den Kulturen) bezeichnet. Diese Entwicklungsphase müssen Nicht-Migrant*innen so nicht bewältigen. Das Verlassen des eigenen Kulturraumes erfordert – ähnlich wie in der Adoleszenz – die Ablösung von dem kulturtypischen Sicherheitsanker. 

Der kulturtypische Sicherheitsanker hat dem Individuum bisher 

  • Geborgenheit,
  • Sicherheit,
  • Vertrautheit,
  • Befriedigung, etc.

gegeben. 


Verändert sich dieser Raum durch Migration kommt es zu einer Grenzüberschreitung in ein fremdes, unbekanntes Terrain, vergleichbar dem Prozess es Abnabelns des familiären Raumes in der Adoleszenz oder den frühen Ablösungsschritten. Es kommt zwangsläufig zu einer gewissen Wachstumsbewegung innerhalb derer es zu flexiblen Abfolgen von „Regression“ und „Progression“ kommt. Die dabei zurückgelassenen Symbole der Ursprungskultur wie Sprache, soziale Interaktionsmuster, Religion, Geschichte, Politik, Alltagsrituale, etc. verlieren ihre Geltung. Das ist umso stärker je kleiner die angetroffene Community aus dem jeweiligen Heimatland im Aufnahmeort ist. 

Die Bedeutung von "Parallelgesellschaften"

Hier kommen wir zum Stichwort „Parallelgesellschaften“. Fast schon ein Unwort in unserer heutigen gesellschafts-politischen Umgebung. Dabei könnten dies auch als Orte des Ankommens verstanden werden, worin eine Person oder gar eine gesamte Familie Sicherheit und Geborgenheit, während des unweigerlichen Veränderungsprozesses der Integration, finden kann. Vor allem bei jungen Erwachsenen kann dies wohl auch als eine Stabilisierung dienen auf dem intensiven Weg seine eigene Identität zwischen elterlich-kulturellen und eigenen Werten zu finden. Wird diese Community jedoch als Fluchtort verwendet um sich den intensiven Prozess der Identitätsveränderung, Ablösung von Altbekannten, Konfrontation mit Ängsten und Unsicherheiten, kurz Integration, verwendet, kann dies nicht nur gesellschaftliche, sondern auch innenpsychische Konsequenzen nach sich ziehen. 


Der Integrationsprozess

Dieser kann ruhigen Gewissens als eine Art Adoleszenz angesehen werden. Unabhängig vom Alter und Geschlecht muss jeder Neuankömmling durch ähnliche Prozesse der Neuorientierung und Ablösung gehen. 

Migrant:innenkinder müssen dadurch eine „doppelte Adoleszenz“ durchleben. Einerseits, die uns allbekannte Ablösung von der eigenen Familie. Andererseits muss auch eine gewisse Abgrenzung vom Heimatland entstehen dürfen. Dies bedeutet eine Doppelbelastung! 

Dabei spreche ich sowohl diejenigen an, welche als Kind mit den Eltern in das neue Heimatland emigriert sind, als auch die sogenannte „2. Generation“, welche hier geboren und aufgewachsen sind. Beide Gruppen müssen in vielen Fällen eine Art „Pilotfunktion“ für die Eltern übernehmen, da sie meist schneller die Sprache und sozialen Spielregeln erlernen und somit zu „sozialen Dolmetscher“ fungieren. Dabei ist das Spektrum der Intensität und des Leidensdrucks weit und individuell. 

Es entsteht eine Art „Kulturschock“ welcher auf eine interessante Art die Gefühle der Adoleszenz ähneln. Angst, Neugierde, Aggressivität, Durchsetzungsverhalten und Trauer durchziehen diese sensiblen Phasen und dabei verändert und verformt sich auch die Identität. 

Interessanterweise zeigen uns Untersuchungen, dass frühe Kindheitserfahrungen für die Kulturentwicklung nicht so ausschlaggebend sind wie zuerst angenommen. Vielmehr ist die Adoleszenz bedeutender. Diese lockert die familiären Strukturen und schafft die Voraussetzung für eine Neustrukturierung der Persönlichkeit und die Eröffnung neuer Erfahrungen. 

Die Auflockerung der der Familienstrukturen ermöglicht es, neue Anpassung- und Kulturformen zu entwickeln, welche nicht auf die Familie zurückführbar sind. 

Die Adoleszenz treibt einen einerseits dazu, das Überlieferte in Zweifel zu ziehen, zu verunsichern und neue Perspektiven zu suchen, und andererseits stellt es einen vor die Aufgabe, sich nicht zu verlieren und die Kontinuität zu wahren. 

Dies kann ein sehr schwieriger und anstrengender Prozess sein, indem Gefühle wie Unsicherheit, Angst und Ohnmacht ausgehalten werden müssen. 


Die Psyche meldet sich

Psychische Symptome können ein Alarmsignal dafür sein, dass der Migrationsprozess möglicherweise scheitern könnte. 

Die psychische Störung kann z.B. als Versuch gedeutet werden, sich selbst vor diesen neuen Erfahrungen und Belastungen zu schützen. Dies führt jedoch zur Isolierung aus der Aufnahmegesellschaft und mündet in Gettoisierung, Gesellschaft in der Gesellschaft, etc. 

Oft kann ist zu beobachten, dass ein starkes Idealisieren oder Abwerten des Herkunfts- oder Aufnahmeland beim Abschotten Hand in Hand gehen. Das nennt sich „Spaltung“ und bedeutet, dass kein ausgeglichenes Pro und Contra in einem existiert, sondern alles Gute auf der einen Seite und alles Schlechte auf der anderen existiert. 

Dadurch kann es kann zu einer empfindlichen Störung des narzisstischen Gleichgewichts durch Gratifikationsdefizite (Mangel an Anerkennung) kommen, weil die Bestätigung und Spiegelung durch das psychosoziale kulturelle Umfeld weitgehend wegfallen. Dies führt wiederum zu Identifikationsunsicherheiten.

Schließlich werden in der Phase der generationsübergreifenden Anpassungsprozesse die tradierten und familientypische Regeln von der nächsten Generation, die im Aufnahmeland aufgewachsen ist, in Frage gestellt. Es kommt zu Generationenkonflikten, welche jedoch notwendige Auseinandersetzungen, um Anpassungsprozesse in Migrant*innenfamilien voranzubringen. Dies kann jedoch ein sehr schmerzhafter Prozess darstellen. Auch davon abhängig wie offen die Elterngeneration gegenüber einer Anpassung an das Aufnahmeland sind. Hier ist erneut das Spektrum der Konflikte und Belastungen sehr groß und können mitunter zu schweren Identitätskrisen und Entscheidungen führen. 


Psychotherapie mit Migrant*innen

Die Psychotherapie mit Migrant*innen bzw. mit Menschen mit Migrationshintergrund, auch in zweiter Generation, unterscheidet sich insofern mit heimischem Patient*innen, indem eine oder mehrere zusätzliche Ebenen beachtet werden müssen. 

Fragen könnten sein: 

  • Wie gestaltete sich die Migration selbst bzw. Von den Eltern? Welche psychischen, sozialen und emotionalen Konsequenzen folgten darauf?
  • Wie war das Leben vor der Migration, wie ist sie jetzt in der neuen Wahlheimat?
  • Sind sprachliche Hürden zu überwinden? Begrifflichkeiten und Umgangssprache muss hinterfragt werden. 

Eine Basiskenntnis vom Herkunftsland ist auch bei Patienten_innen zweiter Generation ausschlaggebend. Die historische Geschichte, welche sich transgenerationell weiterentwickelt, sollte hinterfragt werden. 

  • In welchen Migrationsmilleu ist die Person aufgewachsen? 


Die Bedeutung der Muttersprache

An anderer Stelle habe ich bereits die Bedeutung der Muttersprache erörtert. 

Ich bin der Meinung, dass eine Therapie ebenso erfolgreich sein kann, wenn sie in der erlernten Sprache durchgeführt wird. Jedoch sollte die Primärsprache niemals außer Acht gelassen werden. 

Die Muttersprache ist am höchsten narzisstisch besetzt und verleitet zur Phantasie, in ihr „alles“ ausdrücken zu können im Sinne einer totalen symbiotischen Kommunikation.

Die „Überzeugungskraft“ der Wörter ist jedenfalls größer als in einer Zweitsprache entsprechend ihr Gefühlsausdruck flacher. 

Wenn die Zweitsprache früh erlernt wird, so trägt sie symbolisch und emotionell die frühen Erfahrungen in sich und ist der Muttersprache ähnlich. Wird sie spät erlernt ist diese „kognitiver“ und die früheren mit der Muttersprache assoziierten Anteile sind schwerer zugänglich. 

Das heißt kurz gesagt: Bei polylingualen Patient*innen (und Therapeut*innen) stellt sich gelegentlich die Frage, welche Abwehr oder welche Vorliebe oder Vermeidung dem Gebrauch einer Sprache zugrunde liegt. 


Therapeutin-Patient:innen-Beziehung

Innerhalb der Therapeut*innen-Patient*innen-Beziehung können in verdichteter Form die Belastungen und Probleme der Migrant*innen in der Aufnahmegesellschaft wiederbelebt werden, insbesondere wenn der Therapeut dieser angehört. 

Eine besonders sensible Wahrnehmung und Hinterfragen dieser Dynamiken ist erforderlich um im therapeutischen Raum eine neue Wirklichkeit zu schaffen, welche sich dann auch auf die Außenwelt abfärbt. Dabei muss sich der/die Therapeut*in unweigerlich auch mit seiner eigenen Kultur auseinandersetzen und dabei eine konstruktive ambivalente Haltung einnehmen und seine kulturspezifischen Werte hinterfragen. 

In ethnisch gemischten therapeutischen Beziehungen können unbewusste Konfliktdynamiken entstehen. Das können unter anderen folgende zwei Themen beinhalten: 

Überlegenheit bzw. Dominanz + Gleichbehandlung

Die Benachteiligung ist ein wesentlicher Punkt, wenn wir von Migration und Menschen mit Migrationshintergrund sprechen. Einerseits, weil diese Themen meist eine wesentliche Rolle beim Entscheidungsprozess einer Auswanderung stehen. Zum anderen, weil dies nach der Ankunft in der Aufnahmegesellschaft, oft ein nie endender Kampf darstellt, um einen gleichgestellten Platz und Rolle in der Wahlheimat zu erlangen. Die Einheimischen können der Rolle der Dominanz aus der Perspektive der Migrant*innen nicht entgehen. (bereits vorhandene Sprache, soziale Stellung, etc.)

In der therapeutischen Interaktion geht es insofern um die Frage der Dominanz, da sich folgende Fragen aufdrängen:


Wer bestimmt die kulturellen Spielregeln im therapeutischen Setting? 

Eine Rivalität z.B. um die kulturellen Werte, die sozialen und religiösen Normen etc. In der türkisch-deutschen Interaktion wird diese Rivalität zum Beispiel oft an dem Thema Individualismus/Kollektivismus ausgetragen. 


Mögliche Themen könnten sein: 

  • Lösung aus alten familiären Bindungen
  • Neuordnung der familiären Beziehungsmuster und Kräfteverhältnisse (kann für Mütter und Töchter einen größeren Freiheitsgrad schaffen; Männer hingegen müssen evtl. Einbußen ertragen als Funktion vom Familienoberhaupt)
  • Größenphantasien kompensieren (Realitätsprüfung)
  • Ausbildung neuer Wertesysteme
  • Übernahme von neuen Rollen in der sozialen Umgebung

Bei den vielfältigen Widerständen trifft man häufig auf die Neigung zur „Kulturalisierung“. Dabei werden Widerstände gegen innere Veränderungsprozesse z.B. mit Festhalten an kulturellen Werten und Normen begründet. Für die/den Therapeut*in ist dies eine schwierige Situation, da ihm die Kompetenz die kulturelle Relevanz beurteilen zu können, in der Abwehr abgesprochen wird. 


Der Transkulturelle Übergangsraum

Psychische Symptome, wie Angst vor dem Neuen oder Nicht-Loslassen-Können von Altem, können die „kulturelle Adoleszenz“ erheblich verzögern bzw. stören. Die therapeutische Aufgabe besteht darin, einen intermediären Raum, ein „Zwischen“ zu schaffen, indem innere Realität und äußere Wirklichkeit getrennt wahrgenommen werden können und der reflektierten Betrachtung in der therapeutischen Situation zugänglich werden. Die lebenslangen Individuations- und Loslösungsprozesse vollziehen sich nach diesem Modell in diesem Raum. 

Der therapeutische Raum kann als eine Art Übergangsraum verstanden werden. Darin kann man sein kreatives Potenzial suchen und finden und hat einen sicheren Raum um wichtige persönliche, emotionelle aber eben auch kulturelle Fragen und Erfahrungen zu hinterfragen. In diesem Sinne ist der Behandler eine Art Hilfs-Ich. 


Trauer-Befreiungsarbeit und Nostalgie

Migration geht mit einem „kleinen Sterben“ und „Wiederauferstehen“ einher. Es geht darum, in dem Spannungsfeld zwischen zwei Kulturen lebbare Kompromisse zu finden. Migrant*innen müssen sich mit den Schuldgefühlen und (Selbst-)Vorwürfen der Illoyalität gegenüber den Zurückgebliebenen auseinandersetzen. Durch Erzielen von Erfolgen im Aufnahmeland wird dieses Gefühl paradoxerweise verstärkt. 

Das Phänomen der Nostalgie aka. Heimweh, ist eine „Einwander*innenkrankheit“. Das Heimatland wird in der Regel stark idealisiert. Das verlorene Paradies und eine verheißungsvolle Zukunft ersetzen die Gegenwart und entschädigen für seine Härten. 


Buchempfehlung

Mehr zu dem Thema: Migration, Kultur und psychische Gesundheit

Dem Fremden begegnen
Wielant Machleidt